Mein Vater und ich

Wilfrid Perraudin – La plaine

Wilfrid Perraudin – La plaine
1979 – 48x65 cm – Holzkohle auf Papier
Ref.-Nr. 1363 (Im Nachlass, unverkäuflich)

MEIN VATER UND ICH

Als ich drei Jahre alt war, zeigte mir mein Vater die Kirche St- Germain-des-prés, und er erklärte mir, dass »les églises romanes sont comme-ça«. Er formte meine Hände zu einem Rundbogen. Vor der Sainte-Chapelle lernte ich, dass »les églises gothiques sont comme-ça«, und meine Händchen formten einen Spitzbogen.

Als ich sechs war, nahm mich mein Vater mit in den Sternwald. Er stocherte in einem verrotteten, moosbewachsenen Baumstumpf, und ich lernte, dass der Laufkäfer 'Carabus Auronitens' wunderschön grün-gold schimmert, dass der seltene 'Hygro carabus variolosus nodulosus' schwarz gekörnt ist und dass sein Aussterben wegen der vielen Gifte gegen Insekten zu befürchten ist, »parce que les hommes sont souvent plus bêtes que les animaux«.

Als ich fünfzehn war, lernte ich von ihm, dass man sehr viel Geld verdienen könnte, wenn man mit einem Besen Farbe auf eine Leinwand schmiert. Er schmierte nicht, und ich war trotzdem stolz auf ihn.

Jetzt lebt er nicht mehr, und ich selbst stehe im letzten Lebensdrittel. Ich lerne nicht mehr von ihm, aber weiterhin an ihm. Ich betrachte seine Bilder. Dabei fällt mir auf, wie gründlich er Wahrnehmungen verarbeitet. Das macht mir bewusst, wie reduziert unser tägliches Erfassen der Dinge ist. Mir geht es so, dass ich zuviel auf einmal erfasse und daher letzten Endes viel zu wenig. Ich bin Filmregisseur von Beruf. Ich lebe mit Bildern. Wenn ich einen Film drehe, habe ich es mit 24 Bildern in der Sekunde zu tun.

Zum Beispiel: Was ist ein Weizenfeld?
Provence, Außen/Tag, Totale. Ein Weizenfeld, davor eine Landstraße. Das rote Cabrio rast vorbei (Seitenansicht), man hört undeutlich die entfernte Musik aus dem lauten Autoradio, zügiger 90°-Schwenk mit dem sich entfernenden Wagen (Rückansicht) – Schnitt – Halbnah, von vorn durch die Windschutzscheibe auf die Fahrerin, flatterndes Kopftuch, Sonnenbrille, das Feld verliert sich am Horizont... 200 Einstellungen lagen davor, 400 werden folgen. Drehzeit mit An- und Abfahrt von Hotel zu Motiv: 4 Std., 30 Min., Einstellungsdauer: 3,5 Sekunden, Drehverhältnis 1:8. Das war mein Weizenfeld.

Sein Weizenfeld:
Ein goldenes Weizenfeld in der Provence, roter Mohn, ein weißes Haus im Hintergrund und dunkle Wolken darüber. Ein schönes, effektvolles Motiv, wie geschaffen für eine Filmeinstellung. Doch wenn man dieses Bild so flüchtig anschaut wie eine Filmeinstellung, wird einem das Wesentliche entgehen. Es verdient, dass man hineinblickt. Sein goldenes Weizenfeld mit dem roten Mohn, dem weißen Haus im Hintergrund und den dunklen Wolken darüber ist nicht nur die so beschriebene Landschaft, es ist ein Bild, dessen Motiv zum Auslöser einer Komposition geworden ist. Die Landschaft bleibt erkennbar, doch man dürfte sie beim Betrachten ruhig verlieren, und dem Bild würde nichts fehlen. Das Abbild im Bild ist nur der erste Zugang. Das Motiv übersetzt sich in eine Sprache, in der die Dinge in ihrer Gegenständlichkeit in den Hintergrund treten. Sie werden zu Farben, Flächen, Strukturen, die in Beziehungen zueinander treten, die Wege für den Blick bahnen, Kontraste setzen, Bewegungen verursachen, um schließlich zu einem visuellen Ganzen zu führen. Das Motiv wird nicht vorgefunden, es wird entwickelt. Der Mohn beispielsweise ist nicht nur rot, weil Mohn eben rot ist. Er ist rot, weil seine Farbe das Bild zusammenhält, indem sie das warme Pendant bildet zu dem kühlen blauen Himmel über der grauen Wolke. Und was die graue Wolke anbelangt, so glaube ich nicht, dass es sie damals in der Provence wirklich so gegeben hat, eher wurde sie geschaffen, um dem Weizenfeld zu der Leuchtkraft zu verhelfen, die ein gelbes Rechteck zu einem Naturereignis werden lässt.

Seit mehreren Jahren hängt dieses Weizenfeld nun schon bei mir zu Hause. Ich kenne jeden seiner Pinselstriche, und doch überrascht es mich immer wieder von neuem. Es ist ein offenes Bild, es steht nicht für sich da, es bietet sich an. Ich lasse mich ein. Mal genieße ich den Reichtum, fühle die Kraft und Vitalität. Dann wieder bewundere ich die Ruhe und Schlichtheit, entdecke in ihr sogar eine zarte Anmut. Es lebt, es erscheint mir vollkommen, sein Weizenfeld. Diese Vollkommenheit ist nicht autoritär, sie verlangt nicht nach der Huldigung, die einem Meisterwerk gebührt, sie hat nichts Endgültiges, sie offenbart sich still und unaufdringlich.

Im Weizenfeld finde ich sinnbildlich all das wieder, was die Persönlichkeit meines Vaters ausmacht.
Ich bewundere seine souveräne Beherrschung des Handwerks. Sie erscheint mir wie ein solides Fundament, sie bietet ihm Halt für seine künstlerischen Interpretationen, mal in kraftvoller Schlichtheit, die mich an Romanik denken lässt, mal mit einer Virtuosität, zu der ich Gotik assoziiere.

Ich spüre seine Naturverbundenheit. Sie ist es wohl, die das Bild so glaubwürdig macht. Sonne, Regen und Fruchtbarkeit, der im Bild erlebbare Naturkreislauf, so einfach und so überwältigend wie die Farbenpracht eines beinahe übersehenen kleinen Käfers.

Und dieses von mir am meisten geliebte Bild lässt mich die Weisheit eines alten Mannes erahnen, der sein Leben lang auf der Suche war, zweifelte, fand und weitersuchte, und der trotz dieser Bewegungen niemals zu Gunsten eines Zeitgeistes seine Tradition und seine künstlerische Heimat verleugnete.

Eine schöne Vorstellung: Ich stehe eines Tages zum letzten Mal hinter der Kamera. In der Einstellung ist ein reifes, goldgelbes Weizenfeld zu sehen. Ich werde an ihn denken, und er wird mir einen Wink geben. Das rote Cabrio ...
Nein, dieses überflüssige Cabrio werde ich weglassen.

René Perraudin

(Diesen Text habe ich 1987 als Beitrag für den Katalog zur Ausstellung im Schwarzen Kloster, Freiburg, geschrieben. Zur Aktualisierung habe ich nun geringfügige Änderungen vorgenommen, denn mein Vater lebt nicht mehr, und ich bin inzwischen gut 30 Jahre älter.)